Düsseldorf (energate) - Der Fachkräftemangel hat sich auch in der Energiewirtschaft zu einer der zentralen Herausforderungen entwickelt. Für den Branchenverband BDEW hat das Beratungsunternehmen Arthur D. Little die Situation genauer betrachtet und die Position der Energieversorger im Werben um Fachpersonal analysiert. energate sprach mit Projektleiter Tim Reus über zentrale Erkenntnisse der Studie und mögliche Strategien gegen die Personalknappheit.
energate: Herr Reus, die Energiewirtschaft steht vor einer Verrentungswelle, gleichzeitig werden Fachkräfte zur Nachbesetzung frei werdender Stellen knapp. Vor welcher Herausforderung steht die Branche in Sachen Personalsicherung?
Reus: Der Fachkräftemangel ist schon heute für viele EVU eine große Herausforderung und wird noch weiter zunehmen. Kernursache ist der demografische Wandel, dies geben über 80 Prozent der Unternehmen an. Wir sehen also ein volkswirtschaftliches, kein branchenspezifisches Problem. Auch zeigt die Umfrage, dass es keine signifikanten Korrelationen zwischen der Ausprägung des Fachkräftemangels und der Unternehmensgröße oder der Region gibt. Wenn also der Kuchen in Summe kleiner wird, müssen sich EVU ein größeres Stück vom Kuchen sichern. Diese Aufgabe haben jedoch sämtliche Branchen, sodass der "war for talents" weiter zunehmen wird.
Zudem werden in der Energiewirtschaft sehr gut und fachlich breit ausgebildete Fachkräfte über alle Level benötigt (Monteure, Meister, Bachelor und Master). Betrachten wir beispielsweise Energielösungen wie PV-Aufdachanlagen und Wärmepumpen: Es bedarf vielfältiger, gewerkeübergreifender Fähigkeiten, um diese verbauen und anschließen zu können. Gleichzeitig entstehen immer neue Themenfelder und Technologien, wie zum Beispiel die Verwendung von Wasserstoff im energiewirtschaftlichen System, denen sich Energieversorger ebenfalls - und vor allem parallel - stellen müssen.
energate: Mit welchen Strategien begegnet die Branche den drohenden Personalengpässen?
Reus: Um die beschriebenen Kompetenzprofile in Zukunft abdecken zu können, müssen EVU noch stärker in die eigene Ausbildung von Fachkräften investieren. Auch die Zugänglichkeit muss erhöht, Hürden abgebaut werden. Hierzu zählen neue Ausbildungsmodelle, begleitende Sprachkurse, eine stärkere Integration von arbeitsfähigen Personen, zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund oder Einschränkungen, weitere Internationalisierung und die Schaffung von flexibleren Arbeitsmodellen.
energate: Im Werben um Fachkräfte steht die Energiewirtschaft in Konkurrenz mit zahlreichen anderen Branchen. Mit welchen Argumenten kann sie punkten?
Reus: Es wird nicht mehr genügen, als Branche attraktiv zu sein: Die Energiewirtschaft muss schlicht attraktiver als andere Branchen werden. Die Energiewirtschaft sollte mehr Werbung für die eigene Sache machen. Die wahrgenommene Attraktivität spielt dabei eine große Rolle und ist noch weiter auszubauen. Auch in der Vergütung belegt die Energiewirtschaft heute nicht Platz eins. Doch in beiden Dimensionen sehen wir eine positive Entwicklung.
Außerdem stehen Energieversorger für Werte ein, die für Menschen sämtlichen Alters, insbesondere aber für künftige Generationen eine immer stärkere Bedeutung einnehmen. Nachhaltigkeit, Infrastruktur, Regionalität, Familienfreundlichkeit und Sicherheit sind wichtige Argumente für die Gewinnung und Bindung von Fachkräften. Hier können Energieversorger punkten. Und wenngleich EVU noch einen Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung aufweisen, stehen viele EVU für ein wertschätzendes und positives Arbeitsumfeld.
energate: Mit welchen Mitteln können Energieversorger der Personalknappheit darüber hinaus noch begegnen? Welche Strategien und Maßnahmen haben sich aus Ihrer Perspektive bewährt?
Reus: Laut eigenen Aussagen stellen EVU schon heute eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit, flexibles Arbeiten, Homeoffice und Weiterbildungsmöglichkeiten sicher. Auch bieten über 80 Prozent bereits eigene Ausbildungsplätze an. Über 60 Prozent verfügen bereits heute auch schon über ein attraktives Vergütungsmodell und einen schnellen, transparenten Bewerbungsprozess. Ich glaube, da geht noch mehr. Diese Maßnahmen sind richtig und wichtig, müssen aber noch weiter intensiviert werden.
Will man die Energiewende schaffen, müssen EVU außerdem weiter über den Tellerrand hinausschauen. Neue Technologien, wie etwa KI, müssen aktiv genutzt und implementiert werden, um Mitarbeitende von transaktionalen und repetitiven Aufgaben zu entlasten. Neue Organisationsformen müssen etabliert werden, um alte Strukturen aufzubrechen und die Entscheidungsprozesse zu beschleunigen. Wissens- und Ressourcenmanagement müssen ausgebaut beziehungsweise aufgebaut werden, um das Know-how von Wissensträgern im Unternehmen zu konservieren. Es bedarf des Aufbaus von Expertennetzwerken, Kooperationen und Partnerschaften, um die großen Herausforderungen der Energiewende gemeinsam zu lösen. Als Einzelkämpfer werden es insbesondere kleine EVU zunehmend schwer haben, die breite Palette der Themen kapazitiv und kompetenzseitig im eigenen Haus abbilden zu können.
Die Fragen stellte Rouben Bathke.