Berlin (energate) - Die Energiewende erfordert einen umfangreichen Ausbau der Netze. Nach Einschätzung des Branchenverbandes BDEW hapert es dafür aber gleich an mehreren Stellen. Ein Interview mit Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung.
energate: Die Bundesnetzagentur hat durch ein Urteil des EuGH deutlich mehr Machtbefugnisse bekommen. Wie stehen Sie dazu?
Andreae: Für uns ist wichtig, dass wir zu einem Checks- and Balances-System kommen. Dazu zählen aus unserer Sicht robuste Begründungs- und Berichtspflichten der Bundesnetzagentur gegenüber dem Bundestag, aber auch gerichtliche Überprüfungsmöglichkeiten für Behördenentscheidungen.
Wir schlagen außerdem vor, den Beirat der Bundesnetzagentur zu stärken. Denkbar wäre, speziell einen Energiebeirat einzurichten, damit diese Themen ausreichend berücksichtigt werden.
energate: Was ist in Ihren Augen die größere Baustelle - Netzinstandhaltungsmaßnahmen oder der Zubau neuer Netze?
Andreae: Beides ist wichtig: Der Zubau und die Verstärkung! In den Verteilnetzen sind in den nächsten zehn Jahren über 90.000 Kilometer der Leitungen betroffen, sie müssen neu gebaut, verstärkt oder optimiert werden. In den Übertragungsnetzen müssen bis 2045 rund 25.000 Kilometer zugebaut werden. Die Netze müssen im Jahr 2045 doppelt so viel leisten wie heute.
energate: Wo hakt es beim Netzausbau?
Andreae: Planung und Genehmigungsverfahren dauern immer noch zu lange, auch wenn erste Fortschritte erzielt worden sind. Den Genehmigungsbehörden fehlt es zum einen an Personal, zum anderen sollten die Genehmigungsverfahren weiter vereinfacht und digitalisiert werden. Das nächste Thema sind die Lieferketten, es fehlt an Material, weiterhin sind Fachkräfte knapp. Insbesondere in den urbanen Räumen haben wir noch das Problem der Flächenverfügbarkeit.
energate: Könnte ein Strompreiszonensplit nicht zumindest vorübergehend Abhilfe schaffen?
Andreae: Nein, der Strompreiszonensplit ist a) nicht schnell umsetzbar und b) nicht kostengünstig. Wir brauchen den Netzausbau! Weiter ist wichtig, dass wir daran arbeiten, wie wir produzierte Energie besser nutzen, statt sie abzuregeln, etwa mit Power-to-Gas-Anlagen oder Elektrolyseuren.
energate: Welche Rolle kann Lastmanagement spielen?
Andreae: Lastmanagement kann auf jeden Fall einen Beitrag leisten. Hierfür muss der § 19 Absatz 2 StromNEV reformiert werden. Dieser sieht für hohe Energieverbräuche in Bandlieferung eine Reduzierung der Netznutzungsentgelte vor. Jede Abweichung von der Bandlieferung hat derzeit negative monetäre Konsequenzen. Das setzt falsche Anreize und ist auch nicht effizient. Auf der anderen Seite ist die Bandlast für Erzeuger und Abnehmer eine sehr planungssichere Variante. Maßgabe ist hier also eine kluge Weiterentwicklung.
energate: Im Rahmen der Energiewende müssen sehr viele Erneuerbaren-Anlagen angeschlossen werden. Haben Sie einen Überblick darüber, ob die Netzbetreiber das zeitig hinbekommen?
Andreae: Die hohe Zahl der Anschlussbegehren stellt die Netzbetreiber vor enorme Herausforderungen. Hinzu kommen Wärmepumpen, Speicher und Wallboxen. Durch die Förderung ist es hier zu einem exponentiellen Anstieg der Netzanschlussbegehren gekommen, der so nicht planbar war. Die Netzbetreiber stellen aktuell mehr Personal ein, digitalisieren ihre Prozesse und arbeiten unter Hochdruck daran, dass die Kunden in der vorgegebenen Frist ihren Anschluss erhalten. Zum Teil in Sonderschichten. Wir fordern, die Netzbetreiber angesichts dieser Herausforderungen von anderen bürokratischen Bürden zu befreien.
energate: Woran denken Sie da?
Andreae: Vor allem an IT-seitige Themen, etwa im Zusammenhang mit der Marktkommunikation oder auch bei der Umsetzung der Preisbremsen. Hier müssen wir klarer priorisieren. Alles auf einmal wird nicht funktionieren.
energate: Nicht nur kleine Anlagen müssen angeschlossen werden, sondern auch große Wind- und PV-Parks. Der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil klargestellt, dass die Reservierung von Netzanschlusskapazitäten möglich sein sollte. Was bedeutet das für die Netzbetreiber?
Andreae: Grundsätzlich ist dieses Urteil gut, weil es Rechtssicherheit schafft. In der Praxis wenden so gut wie alle Netzbetreiber bei Anlagen über 30 kW ein Reservierungsverfahren an, nicht nur, weil sie selbst ein Interesse daran haben, dass es diese verbindlichen Zusagen gibt. Insbesondere benötigen die Erzeuger die verbindlichen Zusagen, um ihre Investitionen planbar zu machen.
Problematisch wird es für Netzbetreiber, wenn sie viele Anschlussanfragen für bestimmte Gebiete bekommen, die zu Reservierungen führen, die Projekte dann aber nicht realisiert werden. Deswegen hat der BGH auch darauf hingewiesen, dass die Reservierungen den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht behindern und daher in geeigneter Weise befristet werden sollten. So werden Anschlusspunkte nicht unnötig blockiert.
energate: Es ist etwas still um den Smart-Meter-Rollout geworden. Heißt das, es läuft jetzt reibungslos?
Andreae: Das ist immer ein gutes Indiz. Und tatsächlich: Wir gehen davon aus, dass wir die Rollout-Quoten erreichen. Von 2020 auf 2021 hat sich die Zahl der verbauten Messsysteme von 28.000 auf 133.000 Geräte vervierfacht, trotz aller Unsicherheiten. Der neue Bericht ist zwar noch nicht veröffentlicht, aber wir gehen davon aus, dass der Rollout weiter vorangeht, auch in deutlich größerem Umfang.
Wichtig ist, dass jetzt die technischen Voraussetzungen mit Blick auf die Steuerbarkeit schnell geschaffen werden, sodass Netzbetreiber diese auch implementieren und entsprechende Erfahrung sammeln können. Grundsätzlich wünschen wir uns eine sinnvollere Priorisierung der Einbaufälle. Die Einbaufälle, die die Energiewende am effektivsten voranbringen, müssen vorgezogen werden können. Zudem muss die neu eingeführte Kostenbeteiligung des Netzbetreibers schnell regulatorisch anerkannt werden.
energate: Sie sprechen § 14a EnWG an, die netzdienliche Steuerung von Verbrauchseinrichtungen wie Elektrofahrzeugen. Ist die Branche IT-seitig überhaupt schon in der Lage, diese Steuerung umzusetzen?
Andreae: Die erwartete Neufassung vereint zwei wichtige Punkte. Zum einen setzt sie Preisanreize für das netzdienliche Verhalten, und zum anderen ermöglicht sie, den Strombezug im Falle des Falles auch zu dimmen. Dieser Fall tritt im Moment nur selten ein, weil die Anzahl der Anlagen vielerorts noch nicht problematisch hoch ist und damit auch die gleichzeitig auftretende Leistung noch im unkritischen Bereich liegt. Die Netzbetreiber bereiten sich aber auf eine wachsende Anzahl angeschlossener Anlagen vor. Da, wo es kurzfristig notwendig ist, wird es mit Übergangstechnologie möglich sein.
energate: Extremwetterereignisse wie die Flutkatastrophe vor zwei Jahren zerstören auch die Energienetze. Wie können Netzbetreiber diese resilienter gestalten?
Andreae: Das ist leider gar nicht so einfach. Wir haben eine flächendeckende Infrastruktur, die Extremwetterereignissen ausgesetzt ist. Zukünftig werden sicher stärkere Anforderungen an die Resilienz notwendig. Neben den Netzen ist aber auch die Technik wie Zähler relevant. Eine Idee ist es, diese nicht mehr im Keller zu verbauen, sondern in höheren Etagen.
energate: Wo sehen Sie weitere große Herausforderungen für den Netzbetrieb?
Andreae: Wir sehen die Themen Systemstabilität und Versorgungssicherheit im Kontext. Wir diskutieren momentan über den Industriestrompreis, reden nur über Preise und vergleichen uns mit anderen Ländern. Dabei lassen wir die Netzstabilität außer Acht. Bei uns genießt die Versorgungssicherheit oberste Priorität. Zuletzt hatten wir Stromausfälle von insgesamt zwölf Minuten in einem Jahr. Damit gehören unsere Netze zu den verlässlichsten in Europa. Das ist eine Riesenleistung der Netzbetreiber.
Die Energiewende stellt die Netze aber auch vor besondere Herausforderungen. Damit die hohe Versorgungsqualität auch weiter gewährleistet ist, investieren die Betreiber Rekordsummen in den Aus- und Umbau der Netze - und das in einem Umfeld massiv gestiegener Zinsen. Die regulatorisch festgelegte Vergütung des eingesetzten Eigenkapitals bildet das aber nicht ab. Auch die Netzbetreiber stehen im Wettbewerb um Kapital. Diese Frage werden wir auch auf dem BDEW-Kongress Treffpunkt Netze diskutieren.
Das Interview führte Stefanie Dierks.